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Der Präsident frisst Helen Shuster



Vorabdruck

Der Präsident frisst Helen Shuster

The President Eats Helen Shuster


Saurier und Zeit, die Memoiren des letzten T-rex, wurde in siebenundvierzig Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft. Was drückte sich in diesen Verkaufszahlen aus? Was suchten die Menschen in dem Buch? Offensichtlich gab es eine tiefverwurzelte Sehnsucht. Doch wonach? Vergangenheit? Eine Zeit, als Größe noch zählte? Als noch zählte, was man sehen und anfassen konnte und nicht Dinge, die gar nicht da waren? 

Als Fakten noch Fakten waren und nicht verhandelbar? 

Einmal fünfzig Tonnen wiegen, aufstampfen, dass die Erde bebt? 

Brüllen? Angst und Schrecken verbreiten? 

Gesehen werden? Nie mehr abgehängt? 

Nie mehr Kontrollverlust? 

Wir holen uns unser Land zurück?

Grass, Walser, Handke, Rühmkorf und wie sie alle hießen, die Schriftstellerikonen jener Zeit, wurden in dunkle Ecken verbannt. Wer liest den Butt, wenn er sich fürs gleiche Geld einen Saurier kaufen kann, der Ed heißt?, fragte ein glücklicher Buchhändler ins hingehaltene Mikrofon. 

In den Eingangsbereichen und Schaufenstern der Buchhandlungen stapelten sich Büchertürme, flankiert von sitzenden und stehenden Eds, Einzelkinder oder kunstvoll arrangierte Familienaufstellungen, deckenhohe Plastik-Eds und handliche Plüschtiere zum guten Buch. Der Börsenverein sprach von einer Frischzellenkur für den Buchhandel. Die Erstauflage von hunderttausend Exemplaren ging in wenigen Tagen über den Ladentisch, es wurde nachgedruckt. 

Agenten prügelten sich um die Übersetzungsrechte. 

Der Großkritiker Umberto Uribe Urinal kündigte ein Feuerwerk von einem Roman an! Sprachmächtig, meisterhaft in Prosa gesetzt, unvergleichlich mutig, herzzerreißend, beglückend. Ein ergreifendes Melodram von bestürzender Zartheit und beeindruckender Wucht, innovativ, bewegend und zum Weinen schön. Sehr gegenwärtig und an die Grundfragen des Daseins rührend: Wer bin ich? Wer will ich sein? Ganz große Fragen wurden gestellt und auf jeder Seite beantwortet, in jedem Satz, ach was, jedem Wort und mit einer emotionalen Intensität, die ihresgleichen sucht in der deutschen Literatur. 

Schnörkellose, glasklare Prosa. 

Ein Schüttelfrost der Gefühle! 

Große Literatur. 

Ein Meisterwerk! 

Muss man lesen. 

Her mit dem Nobelpreis!

Dem T-rex zu entkommen war schlechterdings unmöglich. Ein Hamburger Nachrichtenmagazin veröffentlichte ein Gespräch des Herausgebers mit Ed, das als Schwarzwälder-Hüttengespräch, von einem namhaften Historiker jüngst als Hüttenkäse apostrophiert, in die Annalen einging. An diesem Tag entstand das berühmte Foto, das zwei Wanderer auf einem Feldweg zeigt, links der Journalist, daneben Ed der Saurier, der von hinten aussieht wie der Osterhase. 

Alle haben ihn gesehen, tatsächlich war er gar nicht da. Wer sich das Bild heute ansieht, dem fällt sofort auf, dass die Person in der ausgebeulten schwarzen Hose mit dem Hut auf dem Kopf und einem Rucksack auf dem Rücken weder ein Saurier noch ein Osterhase ist, sondern der Philosoph Martin Heidegger.

Umberto Uribe Urinal setzte den Ton. Große Blätter folgten, kleinere zogen nach, Radio und Fernsehen sorgten für entsprechende Echos. Tagesschau und Heute berichteten. Jeder versuchte zu gefallen, indem er noch eins draufsetzte. 

Bin zutiefst aufgewühlt! 

Habe nie etwas Vergleichbares gelesen. 

Fantastisch gut! Mitreißend! Exzessiv!

Stellt bohrende Fragen. 

Lässt dich nicht mehr los. 

Habe es verschlungen und wurde von ihm verschlungen. 

Zieht dir den Boden unter den Füßen weg. 

Ein Prähistoriker schenkt uns die Literatur von morgen schon heute!

Entwickelt einen unglaublichen Sog.

Frisst dich auf, zerstört dich und setzt dich neu zusammen!

Macht mich fassungslos!

Männer zogen aus dem ehelichen Schlafzimmer aus und legten sich im Wohnzimmer mit aufblasbaren Sauriern auf die Couch. Als die japanische Übersetzung erschien, brach in Tokio eine Massenpanik aus. In New York bildeten Leserinnen und Leser mit übergestülpten Saurierköpfen eine Warteschlange, die von der Wall Street bis zum Central Park reichte, um ein Exemplar der Erstausgabe zu ergattern. 

Die russische Himalaja-Expedition geriet auf dem Rückweg vom Gipfel des Mount Everest in eine Schlechtwetterfront und ist bis heute verschollen. Geblieben ist ein Gruppenfoto, aufgenommen kurz vor dem Abstieg: Saurier auf dem Gipfel des Everest! Die Teilnehmer waren zur Feier des Tages in Saurierkostüme geschlüpft. 

Das Urteil der Kritik war einhellig, die Lobeshymnen so zahlreich, dass vereinzelte kritische Stimmen, die etwas von Gleichschaltung und Gehirnwäsche murmelten, verstummten. Wie konnte ein Buch einen solchen Flächenbrand auslösen? Die Menschen hatten kein Buch gelesen, sondern einen psychodelischen Pilz gegessen, der ihnen die Sinne vernebelte. 

Für andere Bücher waren sie verloren. Sie lasen Saurier und Zeit ein zweites, ein drittes, ein viertes und fünftes Mal. Das Buch sei unendlich reich und tief, sagten sie, sie entdeckten immer wieder etwas Neues, das sie zuvor nicht bemerkt hatten. Der Literaturpapst der anderen großen deutschen Wochenzeitung, Uribe Urinals Konkurrent, bemerkte in einer hellsichtigen Minute: 

»Saurier und Zeit« hat uns allen den Stecker gezogen.

Den Stecker? Okay, so kann man es auch sagen. Irgendjemand muss vergessen haben, ihn wieder reinzustecken. In einer Zeit, in der das Buch scharenweise Leser verlor, krönte Sammy seinen Triumph mit einer Einladung ins Weiße Haus in Washington. Ein Foto zeigt ihn mit dem Präsidenten, der sich im Wahlkampf als Der traurige Ed inszenierte: 

Ich weine um mein Land! 

Eine Journalistin fragte ihn in einer Pressekonferenz: 

»Sir? Ihre Anhänger ziehen mordend und eierlegend durchs Land und benutzen menschliche Knochen als Zahnstocher. Was sagen Sie dazu?«

Er schenkte ihr sein strahlendes Lächeln, strich sich seine gelben, pappigen Haare zurück, nahm ihr das Mikrofon aus der Hand und bedankte sich artig: 

»Thank you, Honey.« 

Er packte sie wie einen Kanarienvogel, biss ihr vor laufender Kamera den Kopf ab, fraß sie auf, nagte sie ab und pulte sich mit ihrem Unterschenkelknochen die Fleischreste aus den Zähnen. Eine Stunde später hatte er zehn Millionen neue Facebook-Freunde und acht Millionen neue Twitter-Follower. Das Video The President eats Helen Shuster (Der Präsident frisst Helen Shuster) wurde zwei Milliarden Mal geklickt. Sein Büro wurde überschwemmt mit Anfragen der Lebensmittelindustrie, die die Bildrechte erwerben wollte und Privatpersonen, die sich präsidiale Unterstützung erhofften für die Kampagnen Gesunde Ernährung von Schulkindern und Esst weniger Zucker!

Seine Beliebtheitswerte gingen durch die Decke.



Vorabdruck aus: Am Ende des Tages holt der Elefant im Raum die Kuh vom Eis, ca. 400 Seiten, Roman, erscheint 2021


Copyright © 2020 Rainer Bauer

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