"Unter den Opfern 72 Leserinnen und Leser und der Autor."
Ein Porträt des Schriftstellers als Mörder
Bücher waren Stimmen, die zu ihm sprachen, die nichts verlangten außer Zuwendung und immer da waren, wenn er sie brauchte. Mit einem Buch war er nie allein. Mit Büchern nahm er am Leben teil. Mit Büchern stand er auf, ging er aufs Klo und zu Bett. Überall schleppte er sie mit hin. Hatte er genug, klappte er sie zu und stellte sie ins Regal. Bücher hielten ihn am Leben, sie waren sein Motor, ließen ihn Kind, Ehemann, Sohn, Vater und Liebhaber sein, Madame Bovary oder Graf von Monte Christo, Harry Potter oder der Wolf, der Rotkäppchen frisst:
Aber Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul!
In der Literatur kann man Sachen machen, die man sich im Leben nicht traut. Die Gedanken sind frei. Was gläubige Menschen in Kirchen und Moscheen trieb, suchte Gregor in Büchern. Ein guter Satz war eine Andacht, eine gute Seite ein Gebet, ein gutes Buch ein Hochamt. War ein Autor aufrichtig, adoptierte er ihn wie einen Hund, mit dem man nicht vor die Tür gehen musste. War er unaufrichtig, warf er ihn die Ecke wie Emils falschen Saurier.
Selten war ein Text vollkommen. Autoren kopierten erfolgreiche Autoren oder sich selbst. Sie wiederholten sich. Noch eine Leiche. Noch ein Serienkiller. Noch ein Verbrechen. Noch ein Zauberlehrling. Gregor sah sofort, was er nicht hätte sehen dürfen, wäre der Autor ein guter Autor gewesen. Gleich am Anfang, beim ersten Ton sah er das eitle Posieren, das Abgeguckte, Nachgeäffte, das Gegockel, die plumpe Anmache. Die schrägen Bilder. Die falschen Wörter. Die hohlen, tausendfach gehörten Sätze. Den falschen Zungenschlag, wenn Autoren mit Stimmen sprachen, die nicht ihre eigenen waren. Sie hatten keine Stimme, sie mussten sie erst noch finden, manche fanden sie nie. Wie im Leben, so auf dem Papier. Merken sie im Leben nichts, merken sie auch beim Schreiben nichts. Sie sehen sich nicht. Sie wissen nichts von sich.
Er sah und hörte es und war angeödet. Nach einer Seite konnte er, ohne dem Schreiber begegnet zu sein, ein zehnseitiges Gutachten über ihn verfassen: Was er gelesen hat, wen er nachahmt, worauf er hinauswill, wie emotional, kritikfähig und reflektiert er ist, wie selbstverliebt, verspielt, abgehoben und verblendet. Er konnte sagen, wer er war und wer er sein wollte. Wie viel er wollte und wie wenig er konnte. Menschen ahnen nicht, was sie von sich preisgeben, wenn sie schreiben.
›Du bist zu unnachsichtig, zu hart zu dir und anderen‹, meinte Lena, wenn sie über die Mühen des Schreibens sprachen. ›Du musst Verständnis haben! Wir vermögen alle zu wenig. Der Wille zählt, die Anstrengung, das Bemühen.‹
Nein, und abermals nein. Alles Erzählenswerte ist erzählt, nicht einmal, tausendmal. Es wird nicht neu erfunden, es wird neu interpretiert, um erneut vergessen und entdeckt zu werden.
›Es ist ein stetes Fließen wie die Gezeiten von Ebbe und Flut. Es kommt nicht darauf an, was du sagst. Es kommt darauf an, wie du es sagst. Wichtig ist nicht, Sex zu haben, sondern wie und mit wem. Frauen verstehen das, eine Salatmischung auch, nur Männer verstehen das nicht.‹
Männer? Ach, Männer! Wo gibt es noch richtige Männer! Aufgeblasene Unterhosen! Manchmal wollte er es mit blauen Bohnen sagen wie in einem schlechten Krimi. Seine Leserinnen und Leser an die Wand stellen und mit einer vollautomatischen Waffe durchsieben:
»Sie perforieren Ihr Publikum, Herr Erlkönig. Warum tun Sie das?«
»Schauen Sie, Herr Kommissar, man bleibt ja nicht stehen im Leben, man entwickelt sich. Ich experimentiere mit neuen Ausdrucksformen. Ich wollte es mal anders sagen. Deutlich, nachhaltig, unmissverständlich. Nicht mit Worten, mit Taten. Wie selten hat unsereins Erfolg! Wie selten hören wir ein Wort der Anerkennung!«
»Was haben Sie gehört? Ihre Lesung hat keiner überlebt!«
»Doch, einer. Der war ganz begeistert und sagte: ›Auweia, denen haben Sie’s aber gegeben. Das hat gesessen. Ich war hin und weg und bin es noch.‹ So eine Wortmeldung entschädigt mich für alles. Sie zeigt, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Seit meiner Kindheit will ich verstanden werden. Ich sehne mich nach Liebe, aber nie hört jemand zu. Ich bin verzweifelt. Sie sind auch verzweifelt, Herr Kommissar, das sehe ich. Die vielen schlechten Menschen! Die vielen Verbrechen! Wie halten Sie das aus?«
»Verzweifelt? Darf ich das zu Protokoll nehmen?«
»Ein Aufschrei.«
»Ein ziemlich lauter Schrei, Herr Erlkönig! Zweiundsiebzig Tote!«
»Gewiss, Herr Kommissar - aber Leser. Leserinnen und Leser! Noch schlimmer: Leser*innen. Leute, die es gar nicht gibt, machen wir uns nichts vor. Die behaupten doch nur, sie würden lesen! Die stellen sich die Bücher doch nur ins Regal. In Wirklichkeit gucken sie Fußball, fummeln an ihrem Schwanz oder ihrer Alten rum, saufen Bier oder schießen auf Außerirdische.«
»Lassen Sie die Kirche im Dorf, Erlkönig!«
»Wie steht’s mit Ihnen, Herr Kommissar? Haben Sie eine Schule besucht? Können Sie schreiben? Geben Sie her den Rotz! Ich schreibe das Protokoll selbst.«
»Das ist nicht lustig. Wir sind nicht auf dem Jahrmarkt.«
»Nein, aber wir sollten zusammen hingehen. Ich war schon lange nicht mehr auf dem Jahrmarkt. Eins sag ich Ihnen: In die Achterbahn kriegen Sie mich nicht, da wird mir schwindlig. Geisterbahn fahre ich auch nicht, da kriege ich Angst. Ich muss dem Leben eine lustige Seite abgewinnen. Was soll ich sonst tun - mich erschießen? Zweiundsiebzig Leser und der Autor?! Das ist nicht Ihr Ernst. Das können Sie nicht wollen, Herr Kommissar.«
Aus: Die Reise nach Bayern. Erschienen als Buch und eBook.
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